Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,

vorab möchte ich mich beim GKR der Heilige-Geist-Kirchengemeinde für die Freistellung bedanken, wodurch ich die Möglichkeit hatte, geflüchtete Menschen am Bahnhof Berlin-Südkreuz und dem Berliner Hauptbahnhof zu unterstützen. Diese besondere Zeit und die damit verbundenen Begegnungen sowie Gespräche, waren eine sehr wichtige Erfahrung für mich.

Ich möchte Ihnen und Euch zwei Aspekte beschreiben. Zum einen die Situation an den Bahnhöfen und zum anderen eine Begegnung mit drei geflüchteten Frauen aus Charkiw. Während meiner Einsatzzeit an den genannten Bahnhöfen zeigte sich folgendes Bild:

Menschen, die ihre Hilfe anboten, bekamen eine gelbe oder orangene Weste. Die Farbe Gelb stand für jegliche Unterstützung und Begleitung auf den Bahnsteigen, in den Willkommenszelten und innerhalb der Bahnhofsgebäude.

Die orangenen Westen verwiesen darauf, dass die Träger*, die ukrainische und/ oder die russische Sprache beherrschten. Somit war es durch Übersetzung möglich, dass viele Helfende, die genauen Bedürfnisse der geflüchteten Menschen erfuhren und unkompliziert unterstützen konnten. In erster Linie waren es ganz alltägliche Unterstützungen, wie die Beschaffung von Zugtickets, die Begleitung von werdenden Müttern in Ruheräume, die Sicherstellung der Nahrungsversorgung für Kinder oder einfach Hilfe beim Gepäcktragen.

Es kamen unfassbar viele Menschen am Berliner Hauptbahnhof an. Täglich brauchte Hunderte unsere Hilfe und wir Helfer* waren von dieser enormen Menge teilweise überfordert. Dennoch haben alle Helfenden ihr Bestes gegeben und haben die Menschen nicht allein gelassen.

Eines möchte ich an dieser Stelle unterstreichen. Es war sehr motivierend zu erleben, dass so viele unterschiedliche Menschen, ohne Wenn und Aber ihre Hilfe zu jeder Tages- und Nachtzeit angeboten haben. Diese Erlebnisse gaben mir auch Kraft für notwendiges Handeln in der Zukunft. Nach meiner Einschätzung wird Unterstützung noch sehr lange auf allen gesellschaftlichen Ebenen benötigt werden.

Ich habe in drei Wochen an jeweils zwei Tagen vor Ort mitgewirkt und gemerkt, wie intensiv die Unterstützung und Begleitung vieler Menschen ist. Daher möchte ich an dieser Stelle meinen Dank die Kolleginnen* der Berliner Stadtmission zum Ausdruck bringen. Es ist bewundernswert, wie die Mitarbeitenden diese wirklich anstrengende Situation annehmen und auf höchstem, professionellem Niveau sich mit Empathie und Engagement der Aufgaben widmen.

Drei Schwestern aus Charkiw

Es war der 17. März 2022. Ich kam gerade vom Bahnsteig des Hauptbahnhofs zurück ins Willkommenszelt der Berliner Stadtmission am Washington-Platz. Auf einmal sagte eine Kollegin zu mir, dass sie Unterstützung bei einer Begleitung benötigt. Und dann standen plötzlich drei ältere Frauen vor mir. Sie waren Schwestern, die vor den Bomben aus Charkiw geflüchtet waren und es nun schon bis nach Berlin geschafft hatten.

Die älteste der drei Schwestern war 86 Jahre alt. SECHSUNDSACHZIG! Sie hieß Mascha und hatte außer ihren Kleidern, die sie am Leib trug und ihrem Rollator nichts mehr. In ausgetretenen Hausschuhen und einer alte Wattejacke war sie geflohen und jetzt mit ihren Kräften am Ende. Vier Tage lang waren die drei Schwestern unterwegs und nun standen wir uns gegenüber. Zuerst stärkten sich im Willkommenszelt mit Suppe und Tee. Dann hieß es, dass ein Reisebus angekommen und die Geflüchteten nach Duisburg bringen würde. Dort könnten sie untergebracht und weiter versorgt werden. Alle drei Schwestern wollten unbedingt mitfahren und so schickte eine Kollegin schnell zum Bus mit der Bitte, dass drei Plätze freihalten möge. Die Kollegin rannte los. Ich schnappte mir die Reisetasche der jüngsten Schwester -sie war übrigens 77 Jahre alt- und wir machten uns auf den Weg zum Reisebus. Dieser Weg dauerte verständlicherweise sehr lange, auch weil Mascha nicht gut, geschweige denn „schnell“ laufen konnte. Auf dem Weg zum Reisebus sagte Mascha immer wieder: „chomu, chomu,chomu“. Das bedeutet übersetzt: „Warum“. Selbst jetzt beim Schreiben dieses Berichtes, kommen mir die Tränen, weil ich der Frau diese Frage nicht beantworten konnte und ihre Verzweiflung bis heute nicht vergessen kann. Chomu?!?! Warum?! Am Bus angekommen lud ich den Rollator in den Reisebus und hakte Mascha unter meinen Arm ein, damit sie nicht fällt. An der Tür des Busses, sah mich Mascha an und sie sah meine Tränen. Dann sagte sie einen Satz zu mir, der mir schlicht den Boden unter den Füßen wegzog. Sie legte ihre Hand auf meine Wange und sagte: „Junge, jetzt ist nicht die Zeit zum Weinen! Jetzt ist die Zeit zu leben!“ Wo nahm Mascha diesen Mut, diese Kraft und diesen Optimismus her? Sie, die das hässliche Kriegsgesicht gesehen hatte und flüchten musste, ohne zu wissen, wo sie ankommen und in Zukunft leben wird. Mascha und ich umarmten uns, wünschten uns Frieden, wurde in den Bus begleitet und nahm am Fenster ihren Platz ein.

Oft frage ich mich: wie es Mascha und ihren beiden Schwestern wohl heute geht? Ich weiß es nicht. Ich wünsche den drei Schwestern nur das Beste und hoffe, dass sie ankommen und zur Ruhe kommen konnten. Das Schicksal der Schwestern ist nur eins von Hunderten, Tausenden… jeden Tag kommen Neue hinzu.

Inzwischen ist die Koordination auf dem Hauptbahnhof und anderswo nicht mehr chaotisch und überfüllt, sondern viel besser als noch vor drei Wochen. Geflüchtete können in Berlin ankommen und dann in andere Bundesländer weiterreisen.

Für mich und für uns heißt es jedoch, weiterhin an der Seite der Flüchtlinge zu sein und zu bleiben. Sie einzuladen, ein Teil von uns Allen zu werden und voneinander zu lernen. Ich glaube daran, dass wir das gemeinsam schaffen.

Ihr und euer, Florian Fechtner